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Im Grunde gibt es heute beides: mehr Chancen, aber auch grössere Gefahren. Wir verfügen heute generell über grosse Ressourcen, Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse aller Art, um Probleme wesentlich effektiver anzugehen als in früheren Zeiten. Andererseits greifen wir auch viel stärker als früher in das System ein. Die Klimaerwärmung ist ein Beispiel dafür. Dazu kommt noch der Trend zur Globalisierung. Wir rücken zum «globalen Dorf» zusammen. Gefährlich ist, dass man im Grunde genommen nicht weiss, welche Nebenwirkungen derartige Änderungen haben.
Heute hat ein lokales Ereignis wie die Subprime-Krise in den USA weltweite Auswirkungen.
Wir sind viel vernetzter und damit sind viele der Schutzwälle, die es früher gab, nicht mehr vorhanden. Die Domino-Effekte, die es bei systemischen Krisen gibt, wurden früher oft von ganz allein unterbrochen, weil die Vernetzung nicht global war. Heute kann der Unterbruch einer einzigen Stromleitung in Norddeutschland zu Stromausfällen in ganz Europa führen. Die Finanzkrise hat zudem gezeigt, dass die Akteure ihre Kontrollmöglichkeiten stark überschätzen. Das System entwickelt eine Eigendynamik, die im Grunde genommen nicht kontrollierbar ist.
Das ist zu einfach gesagt. Vernetzung führt ja auch zu Redundanz. Das heisst, wenn ein Weg ausfällt gibt es immer noch einen zweiten Weg. Redundanz kann also stabilisierend wirken. Ein Problem ist allerdings, dass Redundanz heute in vielen Bereichen aus Gründen der Wirtschaftlichkeit eliminiert wird. Das gefährdet dann die Robustheit der Systeme. Es gibt andere Bereiche, wo wir eine sehr starke Vernetzung haben, zum Beispiel im Bankenwesen. Dort haben alle grossen Finanzinstitute Deals untereinander, das heisst jeder ist mit jedem vernetzt. Das ist wiederum zu viel des Guten. Es gibt sozusagen einen idealen Vernetzungsgrad. Was man aber vor allen Dingen braucht, ist ein Sicherungssystem. Beim Stromnetz im Haushalt haben wir eine elektrische Sicherung, die dafür sorgt, dass bei einer Überlastung der Strom unterbrochen wird. Diese Art von Sollbruchstellen brauchen wir, damit die Ausweitung des Problems unterbrochen wird, bevor ein grosser Schaden entsteht.
Für manche Systeme gibt es das. Das sind vor allem technische und lineare Systeme. Extrem anspruchsvoll wird die Sache allerdings, wenn es, wie bei vielen heutigen Krisen, um komplexe Systeme geht. Da stehen wir erst am Anfang.
Komplexe Systeme sind durch nichtlineare Interaktionen gekennzeichnet, wo Ursache und Wirkung nicht proportional zueinander sind. Netzwerkinteraktionen stellen ein typisches Beispiel dafür dar. In solchen Systemen kommt es oft zu unerwartetem Verhalten, zu Selbstorganisation, plötzlichen Regime Shifts, oder komplexer Dynamik wie Chaos und Turbulenz. Das Pingpong-Ball-Experiment, das Sie übrigens auf youtube finden, demonstriert eindrucksvoll, was in solchen Systemen passieren kann. Ein einzelner Tischtennisball kann eine ganze Kettenreaktion auslösen.
Systeme werden schlecht vorhersagbar, unübersichtlich, und schwer kontrollierbar. Manchmal zeigen sie geradezu paradoxes Verhalten. Selbst starke Eingriffe haben oft keine spürbare Wirkung, und ein andermal führen minimale Eingriffe dazu, dass das ganze System kippt.
Die verbreitete Idee, Komplexität zu beherrschen, ist irreführend. Die Vorstellung wäre ja, man könne ein komplexes System steuern wie ein Auto, das heisst, man könne das Lenkrad herumreissen, und dann macht das System das, was man will. Das ist eben nicht der Fall. Komplexe Systeme sind dadurch charakterisiert, dass die Interaktionen innerhalb des Systems gegenüber externen Eingriffen dominieren. Deshalb entsteht im System eine Selbstorganisation. Es ist sehr unklug, die Selbstorganisation des Systems zu bekämpfen. Vor allem braucht es auch unglaublich grosse Ressourcen, wenn man ein sich selbst organisierendes System dazu zwingen möchte, sich anders zu verhalten bzw. zu organisieren, als es das von sich aus tun würde. Der Versuch, ein solches System vollständig kontrolliert zu steuern, wäre selbst in 50 Jahren noch nicht möglich, trotz aller Computerpower, die man bis dahin hätte. Es wäre auch schlicht unbezahlbar. Wir brauchen deshalb einen Paradigmenwechsel. Wenn man ein System oder eine Gesellschaft stabil halten möchte, dann muss man auf Selbstorganisationskräfte setzen. Wir müssen vor allem herausfinden, wie man diese Kräfte stärken und einsetzen kann.
Genau. Selbstorganisationsprozesse sind oft vorteilhaft. Nehmen Sie zum Beispiel Fussgängerströme. Selbst wenn viele Fussgänger in entgegengesetzte Richtungen laufen, behindern sie sich in der Regel kaum. Die Selbstorganisationskräfte sorgen dafür, dass sich nach kurzer Zeit Bahnen bilden und die Fussgängerströme ungehindert aneinander vorbei fliessen. Wir konnten dies in Experimenten und mit Computersimulationen zeigen. Auch die Komplexität unserer heutigen Gesellschaft ist nur möglich, weil im Hintergrund so viele unsichtbare Selbstorganisationsprozesse wirken, welche die Kooperation effektiv unterstützen. Leider können diese Mechanismen auch gestört werden. Wir wissen zum Beispiel, dass das Prinzip der «unsichtbaren Hand» zusammen bricht, wenn es überstrapaziert wird. In Menschenmassen können dann Massenpaniken auftreten, wie sie in Fussballstadien oder bei religiösen Wallfahrten manchmal vorkommen. Auch solche Situationen haben wir untersucht.
Erste Ansätze gibt es. Komplexe Systeme kann man am besten beeinflussen, indem man die Interaktionen zwischen den Akteuren verändert. Ein Beispiel aus unserer Verkehrsforschung illustriert das gut: Man kann die Interaktion zwischen Fahrzeugen verändern, indem man Autos mit einem Radarsensor ausgestattet, der die Abstände zwischen den Fahrzeugen misst, und dann die Geschwindigkeit automatisch anpasst. Auf diese Weise lässt sich der Verkehrsfluss stabilisieren und die Kapazität der Autobahn erhöhen, Staus werden vermieden.
Man kann beispielsweise Gemeinsamkeiten von Ausbreitungsprozessen in verschiedenen Netzwerken untersuchen. Dann findet man Analogien zwischen dem Strassen- und Internetverkehr, Finanzströmen und der Ausbreitung von Epidemien. Aber wenn man über Massnahmen nachdenkt, muss man natürlich auch die Unterschiede im Auge behalten.
In der Praxis heisst das, dass extrem interdisziplinär gearbeitet werden muss. Multidisziplinäre Forschung wird aber noch nicht entschlossen genug gefördert. Der Plan der ETH, Forscher aus verschiedenen Disziplinen in einem Zentrum für integratives Risikomanagement zu vereinen, ist deshalb genau der richtige Ansatz. Ich hoffe sehr, dass es dank dieser Initiative auch viele privilegierte Partnerschaften zwischen der ETH und Wirtschaftsunternehmen geben wird. Wir investieren viel Geld in die Erforschung des Ursprungs des Universums, weil es uns interessiert. Es sollte uns mindestens genauso viel wert sein, zu wissen, wie unsere Gesellschaft funktioniert und wie wir sie vor Risiken schützen können.
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